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„Das ist jetzt ein Alter, da darf man nicht weich werden.“ Puh. Dieser Satz, den ich heute Morgen aufgeschnappt habe, hängt mir irgendwie noch nach. Er schleicht um mich herum, während ich erledige, was erledigt werden muss. Er piekt mich in mein Herz und er lässt mich innerlich den Kopf schütteln. Mich oder das kleine Kind, das auch ich einmal gewesen bin. Puh.
Überholte Erziehungsansätze
„Sie versuchen es immer und immer wieder, sie testen jetzt ihre Grenzen aus.“ Und wieder: Puh. Mir fügen solche Aussagen, solche antiquierten, schwarz-pädagogischen Lehrsätze echt seelische Schmerzen zu. Weil sie meiner Meinung nach das Naturell von Kindern vollkommen verkennen. Weil sie Kinder zu Gegnern machen. Weil sie Kindern eine Rolle zuschieben. Die Rolle eines Wesens, dass bekämpft werden muss. In gewissen Verhaltensweisen. Die sind unbequem, anstrengend und unerwünscht. Weg damit.
Das, was wir an ihnen mögen, loben wir hingegen über den grünen Klee und behandeln unseren Nachwuchs in simpelsten Situationen so, als sei er ein kleines Hündchen, dem man gerade beigebracht hat, nicht den Teppich einzunässen. Wir versuchen zu lehren: Mit Wut, Lärm, Dickköpfigkeit, Eigensinn, erreichst du hier gar nichts. Das darf man nicht durchgehen lassen.
Werden Kinder wirklich so schnell zu Tyrannen?
Wenn ich jetzt einmal nachgebe, dann wirft sich das Kind bis ins hohe Alter brüllend vor der Supermarktkasse auf den Boden, um ein Schokoladenei rauszuschlagen. Dann schläft es im Bett der Eltern, bis es in Rente geht. Wenn ich mir DAS jetzt bieten lasse, dann isses vorbei mit meiner Autorität, dann ist alles verloren, dann ziehe ich Tyrannen heran, die übermorgen die Grundschule anzünden.

Hallo Angst! Das ist wohl oft das Gefühl, das uns Eltern zu Tyrannen werden lässt. Wir haben Angst als Eltern zu versagen, etwas falsch zu machen, lebensuntüchtige Menschen heranzuziehen, die irgendwann der Gesellschaft mächtig aufs Dach steigen, weil man ihnen in einem Wutanfall liebevoll begegnet ist. Oder gar nachgegeben hat. Verständlich, der Druck, der auf Eltern lastet, ist riesig.
Bestrafung fängt nicht bei körperlicher Gewalt an
Dabei müsste ein Erwachsener, der gelernt hat, anders mit seinem Zorn und seinen Aggressionen umzugehen als sie wegzudrücken und sie sich zu verbieten, vielleicht nicht gegen gesellschaftliche Gruppen wettern, die ihm Angst einjagen, oder die Gefühle, die ihn übermannen, in Gewalt ausleben oder im Alkohol ertränken. Oder im Putzeimer und im Perfektionismus. Denn was lernen Kinder logischerweise, wenn sie für zorniges, trauriges oder Enttäuschung äußerndes Verhalten abgestraft werden? Denn Verbote, Druck und dolles Schimpfen sind nichts anderes. Von Auszeiten, stillen Treppen oder Stühlen gar nicht zu sprechen. Bestrafung fängt nicht erst bei körperlicher Gewalt an. Sie lernen, dass diese Gefühle an ihnen nicht richtig sind.
Seht ihr das Problem? Diese Gefühle sind nämlich aus dem Menschsein nicht wegzudenken. Das ist dann irgendwann eine ziemliche Krux. Ich vermute fast, dass sie jeder von uns aus eigener Erfahrung mehr oder weniger gut kennt. Wir schämen uns für Wutausbrüche oder für Tränen, wenn sich mal jemand im Ton vergriffen hat. Auch mit Mitte 30 noch. Wir wollen sie loswerden. Die Wut, die Traurigkeit oder die Angst.
Starke Gefühle können uns aus der Bahn werfen
Wir halten die Gefühle unserer Kinder aber schlichtweg auch selbst kaum aus. Zumindest merke ich, wie schwer mir das in gewissen Situationen fällt. Weil auch wir zumeist genau so behandelt worden sind. Und da stehen wir nun tagtäglich, wir erwachsenen Menschen, und kontrollieren unsere Gefühle. Und am liebsten unser gesamtes Umfeld gleich mit. Weil starke Emotionen uns selbst aus der Bahn werfen. Trauer, Enttäuschung, Ärger, Aggression. Kaum ein Mensch hat doch hierfür adäquate, selbstrespektvolle Verhaltensweisen parat. Weil wir ja auch gelernt haben, dass solche Gefühle nicht erwünscht sind. Und schon gar nicht deren Ausdruck. Sie jagen uns eine Heidenangst ein.
Wenn Zweijährige ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringen, dass die Banane durchgebrochen ist, kann uns das enorm stressen. Denn es ist laut. Wir wollen aber, dass es leise ist. Wir verstehen nicht, dass die Krise über das entzweigeratene Obst für das Kind real ist. Weil wir schon eine Menge durchgebrochener Bananen erlebt haben. Vielleicht auch, weil wir betrauern durften, dass etwas auf einmal nicht mehr unserem Wunsch oder unserer Vorstellung entsprach. Oder weil wir resigniert haben im Laufe der Jahre und selbst im Kleinkinderalter einen gehörigen Anschiss dafür kassiert haben, jetzt wegen einer durchgebrochenen Banane „so zu plärren“.

Es ist anstrengend. Das weiß ich. Es ist anstrengend, wenn man bereits am frühen Morgen durch den aufgewühlten Gefühlsozean seines Kindes segeln muss, weil man versehentlich in Gedanken war und ungefragt das Toastbrot halbiert hat. Und es nervt. Ich finde, es geht auch nicht darum, alles aushalten und hinnehmen zu müssen. Dann geht man mit sich selbst ja auch nicht besonders wertschätzend um.
Selbst Wut rauslassen
Ich habe gestern auch irgendwann rumgemotzt, weil ich 20 Mal sagen musste, dass die Kinder sich jetzt bitte mal auf ihre Kindersitze setzen möchten. Sie mochten halt nicht. Ich hab darüber geschimpft, dass es mich echt nervt, wenn ich in der Kälte warten muss, wenn man mich überhaupt nicht beachtet. Das mich das gerade total wütend macht und aufregt. Hat gutgetan.
Warum also sollen sich Kinder nicht auch Luft machen dürfen? Sie erleben das alles zum ersten Mal auf diesem Planeten. Sie entdecken, dass sie eigene Ansichten und Bedürfnisse haben. Sie bemerken ihren eigenen Willen. Zum Glück! Ich glaube, wir dürfen unsere Angst davor verlieren, auch mal einzuknicken. Die Kinder machen und mitbestimmen zu lassen.
Lernen, dass man Einfluss hat
Ich glaube, es ist eine ziemlich tolle Erfahrung für ein Kleinkind, wenn es gehört und beachtet wird. Wenn es spürt, dass der Erwachsene, der ihm da gegenüber sitzt, seine Wut oder was auch immer erkennt und toleriert. Wenn es lernt, dass es Einfluss hat. Ist das nicht total wichtig und schön? Und warum sollen meine Kinder ihre Schuhe oder Jacken unbedingt oben in der Wohnung anziehen, wenn sie das dann ohne Kampf und Gebrüll auch im Treppenhaus oder unten vor dem Rausgehen tun? Mir persönlich sind klinisch saubere Socken nicht so wichtig.

Ich vermute, dass die Intensität, mit der die Gefühle derzeit über unsere Kinder hinwegrollen, mit der Zeit etwas nachlässt, wenn wir sie jetzt gut darin begleiten. Ja, auch das ist anstrengend und mir rutscht auch schon mal ein „hör jetzt mal auf zu jammern raus!“ Ich bin ja schließlich auch nur ein Muttermensch.
Grenzen sind wichtig. Ach ja?
Ach ja, ein paar Worte noch zu diesen hochgepriesenen Grenzen, denen es so wichtig ist, dass sie gewahrt werden. Erleben Kinder denn nicht total naturgemäß jeden Tag genug Grenzen? Wenn der Joghurt alle ist, wenn man nicht einfach über die Straße rennen darf, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen, oder wenn ich keine Lust mehr habe, das Buch zum fünften Mal anzugucken. Muss man dann noch jede kleinste Alltagssituation zu einer Grenzübung erklären? Mir ist das zu anstrengend. Und ich glaube auch nicht, dass es zielführend ist.
Hier darf man zum Beispiel auf den Küchentisch klettern [als das alleine noch zu gefährlich war, haben wir das zusammen gemacht]. Weil man sonst nicht aus dem Fenster gucken kann. Und weil ich auch immer noch gerne auf Tischen sitze. Ich durfte das früher zuhause auch. Und erstaunlicherweise setze ich mich im Restaurant trotzdem auf einen Stuhl. Irre, oder?!
Keine Angst vor Fieslingen
Ich möchte nicht gehauen werden. Weil das wehtut. Ich möchte nicht, dass die Kinder mit Schuhen in der Wohnung rumlaufen. Weil ich keine Lust habe, noch mehr zu putzen. Ich erkläre ihnen das. Und es funktioniert ganz gut. Weil sie eben auch viele Dinge tun DÜRFEN. Warum auch nicht? Ich habe kaum noch Angst davor, Fieslinge heranzuziehen, weil ich ihnen doch vorlebe, keiner zu sein.
Eine neue, intakte Banane gibt es hier übrigens nicht zwangsläufig. Manchmal neigt man ja dazu, das Kind möglichst schnell mit einer Lösung oder Ablenkung besänftigen zu wollen – allein schon deshalb, damit der Krach aufhört. Aber manche Dinge im Leben lassen sich eben nicht ersetzen oder reparieren oder ändern. Doch dann darf man darüber enttäuscht und wütend sein. Dann darf man Frust empfinden und erfahren, dass man ihn überlebt. Total wichtig. Wenn auch total laut für uns.
Sehr gut! Danke!
Ich hab kürzlich auch über dieses “Grenzen setzen” geschrieben.
✌️
http://daphne-denkt.de/kinder-brauchen-grenzen/
Oh Danke, das werde ich mich gleich mal ansehen! Liebe Grüße!
“Gefällt mir!” ?
:) :) :) Danke!!!!
Liebe Juli, würden wir beide nicht noch so quicklebendig parallel existieren, würde ich Dich glatt als Beweis für meine Wiedergeburt heranziehen können! :-)
Ich teile jedes Deiner Worte aus ganzem Herzen und ich darf mich bereits glücklich schätzen, an zwei bemerkenswerten empathischen Persönlichkeiten zu erleben, was ein respektvoller und freiraumlassender Umgang mit kleinen Menschen macht, wenn sie erwachsen werden.
Das wird alles noch viel spannender, aufregender, schöner und DANKBARER – freu Dich drauf!
Wow, Enna, vielen Dank für deine Worte, die machen mich gerade richtig froh!!! Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie unsere Jungs miteinander und mit anderen Menschen umgehen. Na klar, es fliegen auch mal die Fetzen, aber im Großen und Ganzen sind sie wunderbare kleine Kerle! Alles Liebe!!!
Hallo Juli,
vielen Dank für diesen Text.
Ja, manchmal werden auch wir Eltern zu Tyrannen. Mir hilft es, zu überlegen, ob ich mit einem Erwachsenen beispielsweise meinem Mann ebenso umgehen würden.
Oftmals ist dieses “Funktionieren-Müssen” der Kinder tief in uns verwurzelt und es ist gar nicht so leicht immer auf Augenhöhe zu kommunizieren. Aber wenn man es schafft, ist das Zusammenleben so viel einfacher.
Viele Grüße
Mama Maus
Hallo meine Liebe, ich kann jedes deiner Worte von Herzen unterschreiben. Ich versuche mir genau diese Frage so oft wie möglich zu stellen, und das hilft enorm weiter. Und dennoch rutschen wir manchmal in komische Automatismen. Dann dürfen wir aber auch gnädig mit uns selbst sein, finde ich. Wenn man sich selbst obendrein auch noch tyrannisiert, wird es auch nicht besser :-). Ganz liebe Grüße!
Ich lese deinen Blog so gerne abends, wenn die Kinder im Bett sind und mein Mann für zehn Minuten die volle Verantwortung hat. Mein Pärchen ist jetzt ein halbes Jahr und ich hoffe so sehr, dass ich später mal an deine Worte denken und sie in meiner Erziehung umsetzen kann. Zu sehr lässt man sich (bzw. ich mich) von anderen verunsichern. Aber es stimmt, was ist eigentlich schlimm daran, mal auf dem Tisch zu sitzen (vor allem um was zu sehen). Die Kinder ernst nehmen, sie so sein lassen wie sie sind und all ihre Gefühle anerkennen… Oh man, ich hoffe wirklich, ich schaffe das mal! Mach weiter so, damit ich immer wieder daran erinnert werde!
Liebe Name, Danke für deine offenen Worte! Ich bin mir sicher, du wirst mit deinen Kindern einen ganz tollen Weg gehen. Ich erlebe es völlig anders als ich es jemals gedacht hätte – insbesondere in puncto Erziehung. Da dachte ich nämlich früher komplett anders. Aber wir alle gehen diesen Weg irgendwann zum ersten Mal. Wir beobachten unsere Kinder, holen uns Anregungen, reflektieren und lernen dazu. Du wirst das toll machen, und es muss nicht perfekt sein. Das wird ein Abenteuer!!! Alles Liebe für dich und deine kleinen Muckelchen!!!
Du sprichst mir aus der Seele, ein wahnsinnig schöner und reflektierter Beitrag!
Oh, Danke dir, liebe Anna!!!!!!